Der demokratischen Fantasie keine Grenzen gesetzt
Ein Artikel von Oliver Haardt und Dieter Langewiesche aus der FAZ vom 28.07.2021
Der deutsche Föderalismus kennt in seinem historischen Werdegang nur eine Konstante: den Wandel. Wie geht es damit nach Corona und Flut weiter? Ein Blick zurück und nach vorn.
Es sind schwere Zeiten für den deutschen Föderalismus. Pandemie und Flut haben seine Schwachstellen offengelegt, jedenfalls in den Augen seiner Kritiker. Ein Flickenteppich aus sechzehn verschiedenen Verordnungsregimen, eine ergebnisschwache Ministerpräsidentenkonferenz nach der anderen, dazu landesfürstliche Alleingänge. Im Frühjahr dann die Notbremse: Der Bund zog die wichtigsten Kompetenzen zur Bekämpfung der Pandemie an sich. Laut dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt „ein Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik“. Schon Monate vorher hatte eine Satiresendung über das „deutsche Föderalala“ gewitzelt. Doch so eindeutig ist die Sache nicht. Deutschland ist nicht schlechter durch die Pandemie gekommen als Zentralstaaten. Jüngst zeigte eine Umfrage gar, dass die Zustimmung zum föderalen Prinzip während der Pandemie insgesamt gestiegen ist.
Ob die gegenwärtige Kritik am Föderalismus Folgen haben wird, bleibt abzuwarten. Gedankenspiele zu einer weiteren Föderalismusreform gibt es. Spätestens wenn die Zukunft der EU aufs Tableau kommt, wird sich eine Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen föderaler Organisation im 21. Jahrhundert aber nicht länger vermeiden lassen. Denn auch die Föderalstrukturen der EU sind mehr schlecht als recht durch die Pandemie gekommen. Die Koordinationsprobleme bei der Vakzinbeschaffung, die Schließungen der Binnengrenzen auf dem Höhepunkt der Inzidenzen, der Streit um den europaweiten Wiederaufbaufonds oder die Klage der EU-Kommission, das deutsche Verfassungsgericht achte nicht den Vorrang des europäischen Rechts – all dies stellt die alte Frage mit neuer Dringlichkeit, ob es zur wirksamen Bewältigung von Krisen mehr oder weniger Europa braucht. Das sollte man aber nicht vorschnell gleichsetzen mit mehr Zentralismus oder mehr Föderalismus. Man muss genau hinschauen. Ein Blick in die Geschichte Deutschlands, neben der Schweiz seit Jahrhunderten das Kernland des Föderalismus in Europa, kann dabei helfen: Wo kommt der Föderalismus her? Wie hat er sich verändert? Und wo könnte er hin?
Älter als der Nationalstaat
Der deutsche Föderalismus ist viel älter als der deutsche Nationalstaat. Bis 1871, nachdem der erste Versuch, einen Nationalstaat zu erzwingen, 1849 gescheitert war, lebten die Deutschen über Jahrhunderte hinweg vielstaatlich. Wenn sie sich zur deutschen Nation bekannten, war das lange Zeit nicht mit dem Willen zum gemeinsamen Staat verbunden. Man war Frankfurter oder Sachse, Bayer oder Coburger und konnte sich zugleich als Deutscher fühlen. Aus dieser jahrhundertealten Vielstaatlichkeit ging die deutsche Föderativnation hervor – eine gemeinsame Nation ohne gemeinsamen Staat, aber doch unter dem föderativen Dach zunächst des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dann des Deutschen Bundes.
Dies hat die deutsche und zugleich die europäische Geschichte zutiefst geprägt. Es gab keinen deutschen Zentralort, vergleichbar mit London oder Paris. Deutschland hatte viele Residenzstädte, nicht nur Wien und Berlin. Nur deshalb, so Goethe 1828, haben „Wohlstand“ und eine „bewunderungswürdige Volkskultur ... alle Teile des Reiches gleichmäßig durchdrungen“. Diese offene Gestalt, die man Deutschland nannte, kam auch Europa zugute. Das Reich, ebenso der Deutsche Bund traten nach außen nicht aggressiv auf. Anders als Staaten wie Frankreich und Großbritannien, die auf ein nationales Machtzentrum ausgerichtet waren. Als Machtstaaten setzten sie auf Expansion und wurden zu kolonialen Imperien. Deutschland wie auch Italien gingen diesen Weg erst, nachdem ihre Staatenvielfalt zum Nationalstaat vereint worden war. Dass in Italien ein unitarischer, in Deutschland ein föderativer Staat entstand, bedeutete keinen Unterschied im Willen zur Macht. Föderalismus ist nicht von sich aus friedfertig und muss keineswegs Handlungsschwäche bedeuten.
Alles fließt
Der deutsche Föderalismus kennt in seinem historischen Werdegang nur eine Konstante: den Wandel. Er verändert seine äußere wie innere Gestalt je nach den Bedingungen, unter denen er existiert. Wie man die komplexe Ordnung des Alten Reichs bestimmen kann, darüber waren schon die Zeitgenossen uneins. Bis heute gibt es keinen Konsens. Staat, Staatenbund oder Nichtstaat, Staat der deutschen Nation oder übernationaler Verband? Als föderatives Gebilde blieb das Reich immer in Bewegung. Es zerbrach erst, als das alte Europa um 1800 in Revolution und Krieg unterging, eine der tiefsten Zäsuren in der europäischen Geschichte.
Das Reich zerbrach, die meisten seiner kleinen Herrschaftsgebiete überlebten nicht, doch die föderative Grundlinie der deutschen Geschichte überdauerte. Der Deutsche Bund verband staatenbündische Mehrstaatlichkeit mit der dualistischen Hegemonie Österreichs und Preußens zu einem Exekutivföderalismus, der zwar obrigkeitlich, nicht jedoch restaurativ war. Ein Zurück zu den föderalen Strukturen des Alten Reiches gab es nicht. Die Vielfalt ständischer Ordnungen wurde eingeebnet und die Organisationsform „Staat“ generell einheitlicher. Das begünstigte eine Binnendynamik, vor allem im Bereich der Handelspolitik. Die Gründung des Deutschen Zollvereins gab dem Bundesföderalismus 1834 eine neue wirtschaftspolitische Grundlage.
Nach der 1848er Revolution scheiterten zwar alle politischen Reformversuche an den unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven der Mitgliedstaaten. Dennoch verwirklichte der Bund wichtige konkrete Neuerungen im föderalen Miteinander, etwa das Allgemeine Handelsgesetzbuch. So wurde er zu einem Motor der inneren Nationsbildung. Er verharrte jedoch bei einem Exekutivföderalismus. Ein Parlament als Ort staatsbürgerlicher Mitwirkung verweigerte er. Die Nationalbewegung und ihre Organisationen sahen im Bund deshalb keinen Bündnispartner. Ein föderativnationaler Staatenbund ohne Nationalparlament genügte ihnen nicht mehr. Die Abneigung gegen einen gemeinsamen Nationalstaat blieb jedoch groß. Erst der Krieg gegen Frankreich überwand sie im Süden und Südwesten Deutschlands. Viele fürchteten, am preußischen Gängelband laufen zu müssen.
Die Gründung eines Nationalstaates ohne Österreich brach 1871 mit der alten Reichstradition. Aus der vielstaatlichen Föderativnation ging der föderative Bundesstaat hervor. Dass die meisten deutschen Staaten mitsamt ihren Institutionen überlebten, erleichterte es den vielen, die diesen Nationalstaat so nicht gewollt hatten, sich in ihn einzuleben. Einfach war das nicht, denn der föderale Wandel ging nach der Reichsgründung weiter. Das Kaiserreich entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg von einer dezentralen Mischordnung, die zum Schutz monarchischer Souveränität in das Gewand eines Fürstenbundes gehüllt war, zu einem Bundesstaat mit stark unitarischen Zügen. Föderale Kompetenzen verlagerten sich auf die Reichsebene, der Kaiser erhob sich vom Primus inter Pares im Kreis der Bundesfürsten zum Reichsmonarchen, um den Kanzler herum entstand eine Reichsregierung mit eigenem Ministerialapparat, der Bundesrat verlor seine Rolle als föderales Koordinationszentrum an flexiblere Verhandlungsforen, und der Reichstag erlebte einen Aufstieg, der die bündischen Schutzmauern um die Exekutive bröckeln ließ, aber erst gegen Ende des Krieges in eine Parlamentarisierung der Reichsgewalt mündete.
Die Weimarer Verfassung änderte den Föderalismus erheblich. Er wurde demokratisiert. Monarchien gab es nicht mehr, auch die Länder wurden zu Republiken, und der Schwerpunkt staatlichen Handelns lag eindeutig beim Reich. Preußen war nun ein demokratisches Land, doch sein Übergewicht blieb ein Problem. Eine föderale „Reichsreform“ wurde deshalb zum Dauerthema. Die Nazis machten schließlich kurzen Prozess: Die Gleichschaltung der Länder ersetzte die machtteilenden Föderalstrukturen durch den zentralistischen Führerstaat.
Und nach dem Krieg? In allen Besatzungszonen wurden Länder neu konstituiert. Allerdings ohne Preußen, das auf Beschluss der Alliierten aufgelöst wurde. In der DDR verschwand der Föderalismus bald wieder beim Ausbau des sozialistischen Einheitsstaates. In der Bundesrepublik bildete der Föderalismus dagegen eine wichtige Kontinuitätsbrücke in die vornationalsozialistische Vergangenheit.
Der 1949 gegründete Bundesstaat hatte jedoch eine ganz neue territoriale Anatomie. Sich in sie einzuleben brauchte Zeit. Seit den 1960er-Jahren begann sich der westdeutsche Föderalismus erheblich zu verändern. Zahlreiche Reformen und Reformversuche justierten die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in den folgenden Jahrzehnten neu. Im Mittelpunkt stand stets die föderale Finanzverfassung. Der Föderalismus wandelte sich vom kooperativen zum Verbundsföderalismus und wurde dabei zu einem Element der Gewaltenteilung des „unitarischen Bundesstaates“ (K. Hesse). Die bislang umfangreichsten Strukturveränderungen auf diesem Weg kamen zu Beginn des neuen Jahrtausends: die Föderalismusreformen I und II.
Auch im 21. Jahrhundert bleibt der deutsche Föderalismus also wandlungsfähig. Das muss er auch sein. Denn ist er es nicht, verwirkt er jenes Erfolgsprinzip, das ihn die vergangenen Jahrhunderte hat überdauern lassen. Überspitzt gesagt: Der Föderalismus muss mit der Zeit gehen, sonst vergeht er mit der Zeit.
Einheit in Vielfalt
Die Geschichte des deutschen Föderalismus ist auch eine Geschichte staatlicher Selbstbehauptung. Auf sich allein gestellt, hätten viele der kleinen und mittleren deutschen Staaten wohl nicht überlebt. Das gemeinsame Dach zunächst des Alten Reichs, dann des Deutschen Bundes schützte sie. Die wenigen Jahre, als es das Reich nicht mehr und den Bund noch nicht gab, wurden zu einer Zeit feindlicher territorialer Übernahmen. Nicht nur das napoleonische Frankreich, auch die deutschen Fürsten wollten auf Kosten der Nachbarn expandieren. Eine gewisse Sicherheit kehrte erst ein, als auf dem Wiener Kongress die neue staatenbündische Ordnung völkerrechtlich garantiert wurde. Sie wirkte als Existenzsicherung auch für die kleinen Staaten, die auf sich gestellt dem Expansionsdrang der größeren ausgeliefert gewesen wären. Die Überlebensstrategie hieß föderative Gemeinsamkeit, nicht Unitarisierung und gemeinsamer Nationalstaat.
Auch ohne in einem Einheitsstaat aufzugehen, konnten die Rechts-, Wirtschafts- und Militärordnungen zunehmend harmonisiert, das Verkehrsnetz ausgebaut werden. Es blieb jedoch bei einer Föderation von oben, ohne Parlament, ohne Bürgerbeteiligung. Erst die Revolution 1848/49 erzwang ein Nationalparlament, und gut ein Jahrzehnt später war es ausgerechnet der „Junker Bismarck“, der die Bedeutung eines nationalen Parlamentes erkannte, um zumindest große Teile der Nation für seine preußische Machtpolitik zu gewinnen. Sie brach mit der langen Geschichte deutscher Staatenvielfalt und überführte sie in einen föderativen Bundesstaat ohne das multinationale Österreich. Ohne Krieg wäre ein solcher Geschichtsbruch nicht möglich gewesen. Das allerdings war europäische Normalität. Und nicht nur europäische.
Mit dem Zusammenschluss zu Nationalstaaten, föderativen oder unitarischen, antwortete man im Europa des 19. Jahrhunderts auf die großen Fragen der Zeit. Heute scheint der Nationalstaat nicht mehr zu genügen. Um den weltumspannenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen – Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung, Massenmigration –, braucht es, so sind sich die meisten politischen Kräfte einig, mehr Europa. Manche setzen das gleich mit einem
übernationalen europäischen Superstaat. Ihn gab es in der Geschichte Europas jedoch nie. Europa bedeutete stets politische und kulturelle Vielfalt. Verbunden mit Krieg. Europäische Geschichte war immer auch eine Geschichte des Krieges. Mit dieser hat erst die europäische Integration gebrochen.
Mit der Geschichte der Vielfalt sollte die EU dagegen nicht zu brechen versuchen. Der Föderalismus bietet historisch erprobte Möglichkeiten, Vereinheitlichung mit Bewahrung von Vielfalt zu verbinden, ohne Wandel zu blockieren. Ein starker europäischer Bund, der so dezentral gestaltet ist, wie es die Probleme unserer Zeit zulassen, dies hat im Kern der französische Präsident Emmanuel Macron 2017 in seiner Rede an der Pariser Sorbonne vorgeschlagen – dort, wo 135 Jahre zuvor Ernest Renan in seiner berühmten Vorlesung „Was ist eine Nation?“ die Entstehung einer europäischen Staatenföderation prophezeit hatte. Eine Antwort bleiben die europäischen Regierungen Macron bis heute schuldig. Gerade Deutschland hätte aus seiner langen Geschichtserfahrung mit föderativen Staatsordnungen und deren Wandel einiges beizutragen.
Chance für die Demokratie
Der Föderalismus verteilt staatliche Machtausübung auf verschiedene Ebenen. Ziehen dabei übergeordnete Einheiten nur solche Aufgaben an sich, die untere nicht angemessen wahrnehmen können, ermöglicht er, Entscheidungen möglichst nah an den Bürgerinnen und Bürgern zu fällen. Föderalismus ist also darauf angelegt, demokratische Mitwirkung zu stärken. Dieses Potential entfaltet sich aber nur, wenn das politisch gewollt ist und die institutionellen Voraussetzungen bestehen. Das liegt allerdings nicht in der deutschen Tradition. Der Deutsche Bund verweigerte ein Parlament, und die Verfassung des Kaiserreichs zielte darauf, eine Parlamentarisierung zu verhindern. Der Föderalismus besaß deshalb damals gerade bei Reformern keinen guten Leumund.
So hat die historische Entwicklung in Deutschland einen ausgeprägten Exekutivföderalismus hervorgebracht. Die Gliedstaaten partizipieren nur über ihre Regierungen an der Bundespolitik. So war es im Deutschen Bund, so blieb es im Kaiserreich, und so ist es noch heute. Die Verfassung der Paulskirche wollte das ändern. Neben dem Volkshaus, das aus demokratischen Männerwahlen hervorgehen sollte, war ein Staatenhaus vorgesehen, dessen Mitglieder je zur Hälfte die Regierungen und die Parlamente der Mitgliedstaaten entsenden. Der bisherige Exekutivföderalismus wäre also parlamentarisch ergänzt worden. Andere Bundesstaaten haben ähnliche oder andere Wege gewählt, um den Föderalismus nicht zu einem Instrument der Exekutive werden zu lassen. Dort werden die Länderorgane auf Bundesebene entweder von den einzelstaatlichen Parlamenten besetzt, wie in Österreich, oder direkt vom Volk gewählt, wie in Australien oder wie es seit 1913 auch für den Senat der USA gilt.
Es mangelt also nicht an Vorbildern, um das Übergewicht der Exekutive bei der Mitwirkung der Gliedstaaten an der Bundespolitik zu verringern. Auch gegen mehr direkte Bürgerbeteiligung im Bund wie in den Ländern sperrt sich der Föderalismus nicht. Er war immer entwicklungsoffen, und er ist es weiterhin. Der demokratischen Fantasie setzt er keine Grenzen. Weder im Nationalstaat noch in der EU.