Der Terror der Hamas gab Antisemiten grünes Licht

Der Historiker Michael Wolffsohn sagt, für Juden in Deutschland sei Geschichte Gegenwart geworden. Das darf in Deutschland niemanden ruhen lassen.

Herr Wolffsohn, Sie waren in der vergangenen Woche bei Markus Lanz im ZDF zu Gast. In der Sendung ging es um Israel und die Palästinenser und um die Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland. Nach etwas mehr als einer Stunde sind Sie aufgestanden und sagten, Sie wollten den „Agitprop“ nicht mitmachen. Sie bezogen sich auf die Äußerungen der Autorin Deborah Feldman, die auch in der Runde war. Wieso „Agitprop“?

Frau Feldman argumentiert ähnlich wie die neue, westliche Linke seit den Sechzigerjahren. Und da ich zumindest von der Generation her, aber nicht ideologisch, ein Achtundsechziger bin, kenne ich diese Vorgehensweise. Es geht um klassische Methoden linker Agitation, in diesem Falle ging es um das jüdische Thema. Frau Feldman verfällt von einer Orthodoxie in die andere, von der jüdisch-religiösen zur linken Orthodoxie. Beide sind gleichermaßen antiisraelisch. Für die jüdische Orthodoxie ist der Staat Israel Gotteslästerung, und für die Linke ist der Staat Israel ebenfalls nicht akzeptabel. Insofern ist sich Frau Feldman treu geblieben.

Der Standpunkt lautet: Juden seien in Deutschland nicht sicher, weil Deutschland seine Staatsräson mit der Israels verbunden habe. Deutschland verhindere einen Frieden im Nahen Osten. Wenn sich Juden in unserem Land unsicher fühlten, sei das die Schuld des Staates und seiner Organe, insbesondere der Polizei. Sie bekomme fast einen Herzinfarkt, wenn sie nur einen deutschen Polizisten sehe, meinte Deborah Feldman.

Hier handelt es sich um totalen Unsinn. Und es werden verschiedene Themen miteinander vermischt. Der deutsche Staat will Juden schützen. Das Bedauerliche ist: Er kann es nicht. Er will, aber er kann es nicht. In anderen Ländern ist es genauso. Zu ergänzen wäre, dass Frau Feldman auf ihrem Account bei „X“ die bundesdeutsche, demokratisch legitimierte Polizei mit der Gestapo gleichgesetzt hat. Das ist eine irrsinnige, provokative, inakzeptable Feststellung, die nur von orthodoxen Linken vorgetragen wird, die gegen den demokratischen deutschen Staat polemisieren, ohne ihn zu analysieren.

Wie ist zu erklären, dass der Antisemitismus seit dem 7. Oktober so deutlich hervortritt wie lange nicht? Man hätte nach dem Massaker der Hamas erwarten können, dass es Solidarität mit Juden gibt. Das Gegenteil ist der Fall: Der Antisemitismus bricht los, im Internet und auf der Straße, bevor die israelische Armee in den Gazastreifen vorgedrungen ist.

Das ist richtig, aber die Situationsbeschreibung muss etwas korrigiert werden. Die antiisraelische und antijüdische Militanz gab es seit 1967. Der Terror der Hamas vom 7. Oktober gab nun auch linken und muslimischen Antisemiten grünes Licht, ihren Judenhass in voller Wucht und scheinfortschrittlicher Gesellschaft zu zeigen. Das war ein Dammbruch. Aber im Kern ist das keine neue Entwicklung. Über das jüdisch-israelische Thema hinaus erkennen wir hier eine fundamentale ethische Dekadenz der westlichen Gesellschaften. Denn hier findet die Umkehrung von Opfer und Täter statt. Man kann mit besseren oder schlechteren Argumenten für oder gegen die jeweilige israelische Politik eintreten, auch gegen oder für das militärische Vorgehen Israels an – wohlgemerkt – sieben Fronten, nicht nur an der Gaza-Front. Aber die Solidarisierung mit dem Täter, also mit Terroristen, die 1200 Menschen auf brutale Weise massakrieren, das Identifizieren mit dem Massakrieren ist ein Zeichen ethischer Dekadenz, unabhängig davon, ob es um Juden oder Nichtjuden geht.

Dieses Phänomen manifestiert sich besonders an den Universitäten. Wie werten Sie das?

Auch das ist kein neues Phänomen, weder in Bezug auf den Zionismus und Juden noch in Bezug auf die ethischen Grundlagen der westlichen Gesellschaften. Nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt sind die Universitäten Hochburgen des Antizionismus. In Deutschland war das nicht nur die Freie Universität Berlin, sondern zum Beispiel auch die Universitäten in Frankfurt am Main und Marburg. Zur selben Zeit, wo im gesamten Westen auch der Antiamerikanismus, nicht zuletzt auch in Amerika, Urständ feierte gegen den Vietnamkrieg, über den man sehr vieles Negatives sagen kann. Aber zugleich war es ja nicht nur eine Attacke gegen den Vietnamkrieg der USA, sondern gegen das westliche Fundament, gegen die Ethik des Westens schlechthin. Da wurde ein konkretes, dramatisches Teildefizit westlicher Ethik auf das Ganze projiziert. Jetzt die historische Dimension: Nach den letzten halbfreien Wahlen vom 5. März 1933 waren die deutschen Professoren die Ersten, die zu den Märzgefallenen gehörten, die zum nationalsozialistischen Regime überliefen. Das war kein Einzelfall, es ist Muster. Die Intellektuellen oder vermeintlichen Intellektuellen und additiv durchaus Hochgebildeten haben ganz offensichtlich bezüglich der Herzensbildung große Lücken. Das ist nichts Neues und hat viel mit Opportunismus zu tun. Der Mainstream an den Universitäten in Deutschland und in der gesamten westlichen Welt ist ab 1967 antizionistisch. Das gehört zum schlechten guten Ton. Zu dem gehört wenig Wissen und viel Meinung sowie – wissenschaftlich katastrophal – das Addieren von viel Wissen, um das eigene Erkenntnisinteresse zu zementieren. Es bedarf dann nur eines Anlasses, dass dieser Antizionismus überschwappt und sich der Antijudaismus Bahn bricht, weil alle Juden als Handlanger Israels verstanden werden. Um es mit Shakespeares Worten zu sagen: „Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode.“

Auch hier sehen wir eine Verkehrung der Rollen. 200 Hochschullehrer unterschreiben einen offenen Brief, der das Recht der Studenten auf friedlichen, in diesem Fall antiisraelischen Protest betont. Dass dieser Protest so friedlich nicht immer ist und jüdische Studenten sich bedroht sehen, ist gar kein Thema. Ich habe den Eindruck, Antisemitismus ist jetzt Mainstream, die Mitläufer springen auf und glauben sich in der Mehrheit. In Umfragen heißt es immer, rund 20 Prozent der Menschen in Deutschland – und in anderen Ländern – seien antisemitisch eingestellt. Ich würde sagen: Es sind viel mehr.

Da haben Sie vollkommen recht. Mit der quasi magischen Zahl von 20 Prozent wird nur eine Zielgruppe beschrieben, die einen offenen, unverbrämten Antisemitismus vertritt. Auf die Frage „Hast du etwas gegen Juden oder nicht?“ wird jeder Linke und Linksliberale sagen: Ich habe mit Antisemitismus nichts am Hut. Leute, die sich als „Israelkritiker“ bezeichnen, halten sich nicht für Antisemiten. Subjektiv sind sie es vielleicht auch nicht, aber objektiv in ihrer Wirkung. Denn wer den jüdischen Staat in seiner Existenz infrage stellt, zieht allen den Boden unter den Füßen weg. Im Fall der Fälle ist ein jüdischer Staat die einzige Existenzsicherung für jeden Juden. Mit der bisherigen Demoskopie erfassen wir nur den rechten Teil des Antisemitismus, nicht den linken und muslimischen Antisemitismus.

Sie haben gesagt, Geschichte ist Gegenwart geworden. Was meinen Sie damit?

Jüdisches Leben war immer Existenz auf Widerruf, seit – je nach geschichtlicher Einordnung – 3000 oder „nur“ 2000 Jahren. Meine Generation, auch ich selbst, hielt massiven Judenhass für vergangen, also für Geschichte. Dass unsere physische Existenz und Lebensqualität im Alltag in Deutschland widerrufen werden könnten, das hätte ich nicht erwartet. Das haben die meisten von uns nicht erwartet. Wir dachten, dass unsere Existenz gesichert sei, auch dadurch, dass der Staat jüdisches Leben schützen will, es aber, ich wiederhole mich, nicht kann. Das ist das Grundproblem, und insofern ist Geschichte Gegenwart. Auf der anderen Seite gibt es einen grundlegenden Unterschied: Wenn wir die Zeitgeschichte, also die nationalsozialistische deutsche Geschichte, mit der heutigen bundesrepublikanischen vergleichen, kann man nicht sagen, wir hätten hier eine vergleichbare historische Situation wie 1933. Damals wollte der deutsche Staat Juden diskriminieren und dann liquidieren, heute will er sie schützen. Aber kann es nicht.

Sie könne leider nicht so rational sein wie er, sagte Deborah Feldman am Anfang der Sendung zu Michael Wolffsohn. Später regte sie ihn so auf, dass er das Studio verlassen wollte.ZDF und Cornelia Lehmann

Die traurige Pointe ist, dass jemand wie Deborah Feldman genau das behauptet – der deutsche Staat 2024 sei wie derjenige von 1933 –, weshalb Sie die Sendung von Markus Lanz ja auch verlassen wollten.

Frau Feldman ist das jüdische Alibi, der nützliche Idiot der Antisemiten jedweder Couleur, vor allem der linken Antisemiten. Frau Feldman ist nur die Neuauflage eines jüdischen Antisemitismus, den es als jüdische Miniminderheit immer gegeben hat. Es gibt deutsche Deutschlandhasser, in Frankreich gibt es Frankreichhasser. Manche finden jüdische Antisemiten irgendwie interessanter.

Meinen Sie, eine kontroverse, innerjüdische Debatte über Israel und die Hamas, Israel und Deutschland, Juden in Deutschland, wie Sie sie bei Markus Lanz mit Adriana Altaras, Michael Fürst und eben Deborah Feldman geführt haben, schadet der jüdischen Gemeinschaft in unserem Land?

Nein. Freunde haben mir gesagt, es sei nicht ratsam, innerjüdische Auseinandersetzungen nach außen zu tragen. In der Sendung von Markus Lanz würden Juden sozusagen vorgeführt. Ich kann mich dem nicht anschließen. Ich denke, dass es in der offenen Gesellschaft, die wir Gott sei dank haben, dazugehört, Auseinandersetzungen mit besseren oder schlechteren Argumenten öffentlich auszutragen. Ich halte nicht nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, sondern grundsätzlich das offene und öffentliche Austragen von unterschiedlichen Positionen für unverzichtbar.