Die Legende von der europäischen Souveränität

Professor i.R. Dr. Heinrich August Winkler lehrte Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Der Begriff der „europäischen Souveränität“ ist mehr denn je präsent. Der französische Staatspräsident  Macron verwendete ihn, doch warum Macron in Deutschland missverstanden wird.

Ein Begriff fasziniert die deutsche Politik: der Begriff der europäischen Souveränität. In einer der letzten außenpolitischen Debatten des „alten“ Bundestages, am 24. Juni 2021, beschwor die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel im letzten Satz ihrer Regierungserklärung eine „souveräne Europäische Union“. Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat, Bundesfinanzminister Olaf Scholz, forderte in der gleichen Sitzung kurz darauf „eine stärkere Souveränität Europas“. Auch im Wahlkampf war der Begriff „europäische Souveränität“ omnipräsent, und das nicht zuletzt in Reden und Interviews des christdemokratischen Kanzlerkandidaten Armin Laschet und der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Was „europäische Souveränität“ konkret zu bedeuten hat, blieb allerdings unklar. Sicher ist nur, dass der Anstoß zu diesem Bekenntnis ursprünglich aus Paris kam.

In seiner inzwischen historischen Rede an der Sorbonne vom 26. September 2017 hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron seine Vision von der „Neugründung eines souveränen, einigen und demokratischen Europa“ entworfen. Es war ein fulminantes Plädoyer für ein Europa, das seine Sicherheit selbst zu garantieren vermag, das gemeinsame Antworten auf die Herausforderungen der Migration, des Klimawandels und der Digitalisierung gibt und sich eben dadurch besser als bisher in der Welt behaupten kann. Auf eine Antwort aus Berlin wartete Macron vergebens. Strategische Festlegungen in der Europapolitik gehörten nicht zu den Merkmalen der Ära Merkel. Sie widersprachen dem situativen Politikverständnis der Kanzlerin.

Drei Jahre später, am 12. November 2020, räumte Macron in einem Interview mit der Onlinezeitschrift „Le Grand Continent“ ein, dass sein Begriff von europäischer Souveränität wohl „etwas überzogen“ (un peu excessif) sei. In Deutschland erregte nur ein Teil des Interviews Aufsehen: jene Passagen, in denen der Präsident, für ein Staats­oberhaupt ungewöhnlich, sich scharf gegen einen zehn Tage zuvor, am Vorabend der amerikanischen Präsidentenwahl, von einer anderen Onlinezeitschrift, „Politico“, veröffentlichten Gastbeitrag der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer wandte. Darin hatte die Berliner Ressortchefin gefordert, es müsse Schluss sein mit den „Illusionen von einer strategischen Autonomie Europas“: Die Europäer seien nicht in der Lage, die Schlüsselrolle Amerikas als Sicherheitsgarant zu übernehmen; sie blieben auch weiterhin abhängig von der nuklearen Abschreckung durch die USA. Die Kanzlerin hatte sich so eindeutig bislang nicht festgelegt. Macron äußerte deshalb die Vermutung, sie teile wohl gar nicht die Ansichten ihrer Ministerin.

Strategische Autonomie Europas

Angesprochen fühlte sich Macron zu Recht. „Strategische Autonomie Europas“ ist die militärische Quintessenz seiner Idee von europäischer Souveränität. Er meint damit eine weitestgehende Unabhängigkeit von den USA und der NATO, die er in dem Interview kokett sein „Über-Ich“ (Surmoi) nennt, gegen das er von Zeit zu Zeit aufbegehre. Eine andere, materielle Dimension von europäischer Souveränität machte er ebenso deutlich: Die EU soll großzügig Zukunftsinvestitionen finanzieren, für die die Wirtschaftskraft Frankreichs und anderer Mitgliedstaaten nicht ausreicht, und die Eurozone zur Schulden- und Haftungsgemeinschaft weiterentwickelt werden.

Abgesehen von der Kritik an „AKK“ blieb der „Macron-Plan“, wie „Le Grand Continent“ das Interview betitelte, in Deutschland nahezu unbeachtet. Dabei waren die Ausführungen zur Finalität des europäischen Einigungsprozesses von so grundsätzlicher Natur, dass sie ein amtliches Echo geradezu zu erzwingen schienen. Echte europäische Souveränität, so Macron, würde vollständig vom europäischen Volk (le peuple européen) gewählte Lenker Europas (dirigeants européens) erfordern. So weit seien wir noch nicht. Nicht das erste Mal schlug der Präsident für die Wahlen zum Europäischen Parlament länderübergreifende Listen der Parteifamilien vor, um die „Entstehung eines wahren europäischen Demos“ (l’émergence d’un véritable démos européen) zu fördern. Die europäische Souveränität nannte Macron „transitiv“. „Doch aus den Tätigkeiten der EU-Kommission, des Europäischen Rates mit den von ihrem jeweiligen Volk gewählten Staats- und Regierungschefs sowie des Europäischen Parlaments bildet sich eine neue Form der Souveränität heraus, die nicht national, sondern europäisch ist.“

Macrons Ausführungen klangen supranationaler, als sie gemeint waren. Wenn es tatsächlich seine Absicht gewesen wäre, die Souveränität von der nationalen auf die europäische Ebene zu übertragen, hätte er bereit sein müssen, den Ständigen Sitz Frankreichs im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu „europäisieren“ und die französischen Atomwaffen einer (Mit-)Kontrolle der EU zu unterstellen: ein Ding der Unmöglichkeit für jeden französischen Präsidenten. Rhetorisch ist Macron der europäischste unter den bisherigen Präsidenten der Fünften Republik. Wenn es um den harten Kern der französischen Staatsräson geht, handelt Macron nicht weniger national als der Republikgründer Charles de Gaulle.

Nichts spricht denn auch dafür, dass Macron jemals daran gedacht hätte, die französische Nation in einem europäischen Demos aufgehen zu lassen. Den Begriff der Souveränität scheint er, soweit es um Europa geht, nur im Sinne einer Metapher zu verwenden: Die EU soll, vor allem im militärischen Bereich, unabhängig von den USA agieren können und so ihr weltpolitisches Gewicht erhöhen. Der Präsident irrt im Übrigen, wenn er glaubt, länderübergreifende Listen der verschiedenen Parteifamilien seien geeignet, dem Konstrukt eines europäischen Demos näher zu kommen. Schon jetzt sind die Bindungen der Straßburger Abgeordneten an ihre Wählerschaft schwächer als die der Abgeordneten in den nationalen Parlamenten. Sie würden sich weiter abschwächen, kämen diese Abgeordneten nicht mehr aus dem eigenen Land, sondern aus anderen EU-Staaten.

Demokratisches Defizit

Das demokratische Defizit des Europäischen Parlaments lässt sich auf diese Weise auch nicht beheben. Das Parlament der EU geht zwar aus allgemeinen, freien, geheimen und direkten, aber nicht aus gleichen Wahlen hervor. Es kann auch gar nicht anders sein. Wenn alle Mitgliedstaaten des Staatenverbundes, auch die kleinsten, im Europäischen Parlament vertreten sein sollen, müssten ihm mehrere Tausend Abgeordnete angehören. Es wäre arbeitsunfähig. Also privilegierten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft, als sie 1976 die Direktwahl des Europaparlaments beschlossen, die kleineren Staaten auf Kosten der größeren: Eine maltesische Stimme wiegt heute etwa zwölfmal so schwer wie eine deutsche. Das ist nach wie vor hinnehmbar, solange dieses Parlament nicht über dieselben Kompetenzen verfügt wie die nach dem gleichen Wahlrecht gewählten nationalen Parlamente.

Es ist der Mangel an demokratischer Legitimation des Europaparlaments, auf den das Bundesverfassungsgericht immer wieder verweist, wenn es um Kompetenzverlagerungen von der nationalen auf die europäische Ebene geht. Um die demokratische Kontrolle europapolitischer Entscheidungen zu gewährleisten, müssen die Parlamente der Mitgliedstaaten ihre Inte­grationsverantwortung wahrnehmen. Das Europaparlament kann sie ihnen nicht abnehmen, weil es nicht dasselbe demokratische Mandat besitzt wie sie. Eine Vollparlamentarisierung der EU, wie sie vor allem deutsche Mitglieder des Straßburger Parlaments und von den deutschen Parteien besonders nachdrücklich die Grünen und die FDP fordern, würde das Demokratiedefizit der Union nach dem Urteil des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Dieter Grimm daher nicht vermindern, sondern vergrößern.

Mehr Europa darf also nicht weniger Demokratie bedeuten. Wenn die Mitgliedstaaten der EU Hoheitsrechte auf den Staatenverbund übertragen, müssen sie dafür sorgen, dass die Folgen dieses Transfers durch ihre Parlamente fortlaufend (mit-)kontrolliert und damit demokratisch legitimiert werden können. Die nationalen Parlamente können ihre Europapolitik besser koordinieren und synchronisieren. Aber an den europapolitischen Entscheidungsprozessen mitwirken müssen sie, weil andernfalls „Brüssel“ mehr noch als bisher, und zwar zu Recht, als verselbständigte Exekutivgewalt wahrgenommen würde. Die Folge wäre eine wachsende Entfremdung zwischen den Hütern des Projekts Europa und den Völkern der Europäischen Union. In den Worten des Staats- und Völkerrechtlers Christian Hillgruber: „Wer das europäische Haus unter Missachtung der für die europäischen Staaten konstitutiven Verfassungsprinzipien der Volkssouveränität und Demokratie bauen will, baut auf Sand. Nur wenn es auf dem soliden Fundament demokratischer Selbstbestimmung der europäischen Völker ruht, kann das europäische Aufbauwerk gelingen und zur Vollendung geführt werden.“

Dass Macrons Parole von der „europäischen Souveränität“ gerade in Deutschland viel Zustimmung findet (mehr als in Frankreich selbst), hat historische Gründe. Die Deutschen haben ihren ersten Nationalstaat durch extremen Nationalismus und Militarismus zerstört. Daraus folgerten nach 1945 viele, dass der Nationalstaat schlechthin keine Zukunft mehr habe: eine Auffassung, die, abgesehen vielleicht von Luxemburg und Belgien, in den Staaten der EU heute kaum noch geteilt wird. Die alte Bundesrepublik war kein Nationalstaat; viele ihrer Intellektuellen empfanden sie in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren, um einen von dem Bonner Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher 1976 geprägten Begriff zu zitieren, als eine „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“. Das wiedervereinigte Deutschland ist ein Nationalstaat, wenn auch von gänzlich anderer Art als das katastrophal ge­scheiterte Reich von 1871. Es gehört zu den postklassischen Nationalstaaten Europas, die einige ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben und andere, wie die Währungshoheit, auf supranationale Einrichtungen übertragen haben.

In den deutschen Parteien gibt es nach wie vor Vorstellungen von der künftigen Gestalt der Europäischen Union, die kaum irgendwo sonst Unterstützung finden, ja vielfach als unhistorisch und als Ausdruck deutschen Wunschdenkens betrachtet werden. Das gilt für das von der FDP geforderte, in der Partei aber höchst umstrittene Ziel eines europäischen Bundesstaates wie für die von den Grünen propagierte Föderale Europäische Republik. Es gilt aber auch für das zuerst von Politikern der CDU verfochtene, dann von der SPD, den Grünen und der FDP übernommene Projekt von „Spitzenkandidaturen“ bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, das auf die Vollparlamentarisierung der EU, die Bestellung des Präsidenten oder der Präsidentin der Kommission allein durch die Abgeordneten des Straßburger Parlaments, abzielt. Macron wusste, weshalb er sich strikt gegen dieses Vorhaben aussprach und maßgeblich zu seiner Verhinderung beitrug.

Für die Forderung nach „Mehr Europa“ gibt es gute, ja zwingende Gründe. Die weltpolitische Lage verlangt förmlich nach einer handlungsfähigen EU, die in wichtigen Fragen mit einer Stimme spricht. Sie verlangt aber auch eine EU, die ihre Stärken und Schwächen realistisch einschätzt und nach innen und außen nicht mehr verspricht, als sie halten kann. Sie bleibt auf die Partnerschaft mit den USA angewiesen, und das gerade auch dann, wenn es um die Selbstbehauptung Europas gegenüber China geht. In der EU der 27 fehlt es, seit einige ostmitteleuropäische Mitgliedstaaten sich als „illiberale Demokratien“ verstehen und den Abbau des Rechtsstaates vorantreiben, an dem inneren Zusammenhalt, der für eine gemeinsame Willensbildung in der Außenpolitik notwendig ist. Infolgedessen kommt alles auf die engstmögliche Zusammenarbeit der Staaten an, die am Grundkonsens der Gemeinschaft festhalten und notfalls zu einer Um- oder Neugründung der EU bereit sind.

Von einer unablässig fortschreitenden Übertragung von Hoheitsrechten von der nationalen auf die europäische Ebene kann längst keine Rede mehr sein. Im Juli 2013 gab der damalige sozialdemokratische Außenminister der Niederlande, der heutige Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans, die Parole aus: „National, wo es möglich ist, europäisch wenn es sein muss.“ Kurz darauf, im August 2013, gab Angela Merkel unter Berufung auf das Beispiel der Niederlande zu Protokoll, „mehr Europa“ müsse nicht Kompetenzverlagerung nach Brüssel, es könne auch verstärkte Koordination unter den Regierungen der Mitgliedstaaten der Union bedeuten. Statt „ever closer union“ „ever closer cooperation“: Das ist der Paradigmenwechsel, der sich in den Mitgliedstaaten der EU vollzogen hat, den in Deutschland bis heute aber viele nicht wahrhaben wollen.

Auch der Begriff der „europäischen Souveränität“ weckt, selbst wenn er nur floskelhaft, im Sinne einer handlungsfähigen EU, gemeint ist, Erwartungen, die nicht zu erfüllen sind. Ein Begriff, der so viel Spielraum für beliebige Assoziationen lässt, ist ein fragwürdiger Begriff. Dasselbe trifft auf Begriffe wie „postnational“ und „europäische Republik“ zu. Sie sind nicht geeignet, Europa zusammenzuführen, sondern zu spalten. Im Hinblick auf das wiedervereinigte Deutschland lässt sich Ähnliches sagen. Wer vor 1989 nicht in der alten Bundesrepublik gelebt hat, kann sich kaum mehr in eine Begriffswelt hinein­versetzen, die zutiefst geprägt ist von jenem Sonderbewusstsein westdeutscher Intellektueller, das europäisch und gesamtdeutsch gesehen inzwischen zum „falschen Bewusstsein“ im Sinne von Marx geworden ist. Die europäische Einigung ist ein antinationalistisches, aber kein antinationales Projekt. Es will die Nationen nicht überwinden, sondern überwölben. Ein Europa, das seine nationale Vielfalt aufgeben wollte, gäbe sich selbst auf.

Die postklassischen Nationalstaaten werden gebraucht, weil sie bislang der einzige verlässliche Rahmen für den Rechts-, Kultur- und Sozialstaat sind und weil nur sie die demokratische Legitimation der nationalen wie der europäischen Politik verbürgen können. Ohne sie hätte das Prinzip der Volkssouveränität keine sichere Heimstatt mehr. Ein harter Kern von nationaler Souveränität muss also bleiben – um der Demokratie und um Europas willen.