«Das Volk auf den höheren Standpunkt heben»: Anhand von Alfred Eschers Reden lässt sich der frühe Liberalismus studieren

Von Urs Hafner aus der NZZ vom 29.07.2021

Die liberalen Gründerväter der 1848er Generation waren optimistisch, ja zuweilen fast utopisch – aber alles andere als direktdemokratisch.

Der demokratischen Fantasie keine Grenzen gesetzt

Nationalstaaten sind eine junge Erscheinung. Darum brauchen sie alte Gründungsgeschichten – sie müssen ihre Bürgerinnen und Bürger von sich überzeugen. Dass die diversen Klassen und Kulturen die politische Ordnung akzeptieren, die aus Kämpfen und Kompromissen hervorging, ist keineswegs selbstverständlich.

Die Schweiz kultivierte lange den Gründungsmythos von «1291», doch der ist brüchig geworden; er wird nurmehr von Fundamentalopponenten beschworen. Die Historiker haben ihn zersetzt (nachdem sie ihn aufgebaut hatten), die bäuerlichen Eidgenossen taugen nicht mehr als Identifikationsfiguren, und das linksliberale Lager hatte ohnehin Mühe mit Morgarten. Just diese Kreise forcieren die neue Gründungsgeschichte, die auf «1848» setzt: auf die Entstehung der modernen Schweiz. Stand 1291 für Wehrwillen und Sonderfall, soll 1848 Verfassungsdemokratie und Menschenrechte evozieren.

Die siegreichen Promotoren des neuen Bundesstaats waren die Liberalen (die Linke hatte sich noch nicht formiert, die Konservativen waren unterlegen), etwa der 1819 geborene Zürcher Politiker und Eisenbahnunternehmer Alfred Escher. Zu seinen Lebzeiten verehrt, gefürchtet und verhasst («König Alfred I.»), hat er dank dem Historiker Joseph Jung, der zahlreiche Bücher zu Eschers Leben und Wirken vorgelegt hat, in den letzten Jahren eine prominente Renaissance erfahren.

Die Freiheit richtig anwenden

Jetzt folgt Jungs neuster Streich: die Edition von rund dreissig parlamentarischen «Thronreden», die Escher zwischen 1848 und 1868 hielt. Den republikanischen Schmähbegriff «Thronreden» prägten Eschers konservative Gegner, wie Jung in der informativen Einleitung erläutert, die eine hagiografische Schlagseite aufweist. Die Gegner störten sich daran, dass Escher als Präsident sowohl des Zürcher Grossrats als auch des Nationalrats wiederholt programmatisch und manchmal auch etwas ausufernd seine Einschätzung der Lage der Nation vortrug. Escher war zeitweilig gleichzeitig Grossrat, Regierungsrat, Nationalrat, Nationalratspräsident und dazu aktiv in unzähligen Kommissionen – eine heute undenkbare Ämterkumulation.

Der habilitierte Jurist Escher war kein mitreissender Redner, und manche seiner Sujets, die er in überlangen Schachtelsätzen behandelte, sind kaum mehr verständlich, zumal er sich gerne in Anspielungen erging. Die «Thronreden» bieten freilich eine gute Gelegenheit, dem Liberalismus der «48er Generation» auf den Zahn zu fühlen – unverstellt präsentierte dieser sich im Parlament den mehrheitlich Gleichgesinnten. Wie also sieht der heute gern angerufene neue Gründungsmythos der Schweiz tatsächlich aus?

Eschers Lieblingsvokabel ist das «Volk», dessen Verhalten zu rühmen er nicht müde wird – sofern es «arbeitsam und opferwillig» seine neue Freiheit recht anwendet, sich also in Eschers Sinn aufführt. Die Volksrhetorik ist für einen Politiker der Neuzeit – für einen «Volksvertreter» – nicht weiter erstaunlich, aber im Fall des Liberalen bemerkenswert, weil dieser sich nicht für die breite Bevölkerung interessiert.

Man könnte sogar sagen, dass die liberalen Eliten dieser Bevölkerung misstrauisch gegenüberstehen, denn das «Volk» ist unberechenbar und seinen Launen ausgeliefert, während sie, die Eliten, sich nicht von Stimmungen mitreissen lassen. Sie sehen sich als die Verkörperung der Vernunft. Immer wieder muss das «Volk» auf den rechten Weg beziehungsweise «den höheren Standpunkt» gebracht werden. Als der Kanton Zürich 1861 die Rechtsgleichheit der Juden beschliesst, merkt Grossratspräsident Escher an, er wisse schon, dass «unser Volk» die Gleichstellung der Juden mit den Christen nicht durchgängig begrüsse, aber er bitte nicht zu vergessen, «meine Herren, dass wir nicht bloss die Diener, sondern auch die Ratgeber des Volkes zu sein berufen sind».

Kontrolle der Bevölkerung

Um 1850 klärt der Bund die «Heimatlosenfrage», das heisst, er gliedert rund 30 000 Personen ohne festen Wohnsitz, unter ihnen viele Fahrende, rechtlich in die Nation ein, zum Teil gegen ihren Widerstand. Was als Integrationsmassnahme gedacht ist, bedeutet die Nivellierung differenter Lebensweisen. Der Nationalstaat kontrolliert seine Bevölkerung.

Nationalratspräsident Escher lobt seine Kollegen: «Mit Beziehung auf die Heimatlosen haben Sie einen Beschluss gefasst, welcher beweist, dass Ihr Herz nicht weniger warm schlägt für Menschlichkeit als für Vaterland.» Natürlich glaubt er seinen Worten, aber der Grossbürger hat von den Lebensrealitäten der Unterschichten keine Ahnung. Und als über die Armutsbekämpfung diskutiert wird – die Arbeitsverhältnisse der Fabrikarbeiterschaft sind damals katastrophal, Kinderarbeit ist an der Tagesordnung –, warnt Escher vor «jeglicher Übereilung auf diesem Gebiet».

Escher und seine Mitstreiter, die Gründerväter der modernen Schweiz, sind elitäre Befürworter der repräsentativen und vehemente Gegner der direkten Demokratie (und natürlich auch des Frauenstimmrechts). Sie lehnen Referendums- und Initiativrecht ebenso ab wie die Volkswahl der Regierung. Die Zürcher Verfassung von 1831, eine liberale Errungenschaft gegenüber der Restaurationsverfassung von 1814, setzt den Grossen Rat als oberstes Organ ein, von dessen 212 Mitgliedern 179 vom «Volk» – also von männlichen Bürgern, die weder armengenössig sind noch als behindert gelten – gewählt werden. Die Erkorenen kooptieren die restlichen 33 Mitglieder.

Ermannung statt Erschlaffung

Als der Kanton Zürich 1868 aufgrund des ausserparlamentarischen Drucks der demokratischen Bewegung und der Landbevölkerung und gegen den Widerstand der Liberalen die direkte Demokratie einführt – was den Start der 1891 abgeschlossenen Direktdemokratisierung der Bundesverfassung auslöst –, implodiert Eschers Herrschaft. Die neue Zürcher Verfassung entschädigt zudem die Mitglieder des Parlaments, damit auch ärmere Personen sich das Amt leisten können, und führt die Steuerprogression sowie die Unentgeltlichkeit des Volksschulunterrichts ein.

Joseph Jung beschliesst das schön gestaltete Buch denn auch mit Eschers Eingeständnis seiner Niederlage. Ob die neue Verfassung sich bewähren werde, und zwar auch für die Erreichung «höherer Ziele», die nicht näher umrissen werden, müsse sich weisen – dieses Kommentars kann Escher sich nicht enthalten.

So ein Ziel könnte die Stärkung der «geistigen Kultur» sein, um damit die «höhere ideale Richtung im Volk zu erhalten», wie Escher um 1850 ausführt. Zu dieser Zeit propagiert er die Errichtung einer Nationaluniversität, die «als einzige der Erde» drei Kulturen vereine (die damals drei Landessprachen der Schweiz), dringt jedoch mit seinem Plan nicht durch. Die 1855 erfolgte Gründung der heutigen ETH Zürich ist nurmehr ein Kompromiss. Inwiefern aber das «Volk» von der Universität, die für eine schmale männliche Bürgerschicht gedacht war, hätte profitieren können, erläutert Escher nicht.